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Wenn das Grab schweigt
Von Pfarrer i. R. Wolfgang Gerlach, Essen
"Wir beide sind Grabbesucher - Maria von Magdala aus der Bibel und ich", sagt Wolfgang Gerlach. Doch wir machen ganz unterschiedliche Erfahrungen am Grab: Ihr begegnet der soeben getötete geliebte Freund in Gestalt eines Gärtners; ich aber treffe niemanden an.
Der vermeintliche Gärtner nennt sie beim Namen. Das Grab meiner Frau schweigt." Hatte er als Pfarrer nicht unzählige Male an Gräbern von Auferstehung gesprochen? Welche biblischen Bilder und zeitgenössischen Texte haben die Kraft, Hoffnung anzusprechen wo Zweifel und Trauer verstummen lassen?
Spüren Sie's auch? Es ist immer noch früher als sonst, seit vor einer Woche die Uhren um eine Stunde vorgestellt sind. Mein Organismus hat sich noch nicht dran gewöhnt. Ich komm noch nicht mit.
Gestern haben die Christen in den Kirchen gesungen "Christ ist erstanden". Und heute werden sie's wieder singen. "Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen". Das ist österlicher Refrain, jedes Jahr. Im vorigen Jahr hab ich ihn auch noch mitgesungen - den Kanon "Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja". Aber diesmal bleibt mir das Halleluja in der Kehle stecken. Die Stimmbänder geben's nicht frei. Der sprichwörtliche Kloß im Hals. Es ist, als ob die Uhren überhaupt gänzlich anders gingen, seit meine Frau vor elf Monaten gestorben ist. Ich komm noch nicht mit.
Maria Magdalena trauert auch um einen Menschen, den sie liebte. (Johannes 20) Wir sehen auch sie in der Früh. Da gab's noch kein Ostern. Durch das, was sie erlebte, sollte erst noch Ostern werden. Sie steht am Grab Jesu, vor Sonnenaufgang. Als Erste war sie gekommen, in der Dunkelheit. Sie wartet die Dämmerung ab. Sieht den Stein vom Grab gewälzt. Läuft verschreckt zur Jüngerschar, trifft Petrus und Johannes, erzählt erregt vom fortbewegten Stein, faselt verwirrt irgendwas davon, dass der Leichnam gestohlen sei. Die beiden Freunde laufen, wie um die Wette, mit ihr dorthin. Kommen an, sehen nur zusammengerollte Leinentücher. Der Evangelist Johannes, der diese Szene überliefert hat, schreibt hier nichts über die Gefühle der beiden.
Petrus wagt sich zuerst ins Grab. Von dem Jünger Johannes, in dem sich der Evangelist am liebsten selber sieht, heißt es:
"Da ging auch der andere Jünger hinein, der zuerst zum Grab gekommen war, und sah und glaubte. Denn sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder heim."
Maria Magdalena bleibt da. Auch sie - kommt noch nicht mit. Sie steht vorm Grab und weint. Es ist von zwei Engeln die Rede, die sie sieht. Oder sollte ich besser sprechen von Engeln, die sie schaut? Sie fühlt sich angesprochen auf ihre Trauer und Tränen. Sie sagt, sie sei auf der Suche ...
"Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben".
Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Weib, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hingelegt, so will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria!
Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch. Rabbuni! Das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater."
Maria Magdalena hat ihren Freund verloren und ich meine Frau. Wir beide sind Grabbesucher. Aber unsere Erfahrungen? Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Uns verbindet allein der Verlust eines geliebten Menschen. Aber sonst gibt es wenig Vergleichbares: Maria und Jesus jung, wir betagt; die Beiden kannten sich gut ein Jahr, wir beide waren 45 Jahre verheiratet; der Jude Jesus durch Heidenhand qualvoll hingerichtet, meine Frau nach Schlaganfall in tagelanger Atemnot qualvoll hingerafft. Ich weiß, solche
Vergleiche haben meistens wenig Sinn.
Aber für mich hat es dennoch Sinn; denn ich sehe und fühle:
Für Maria aus Magdala muss dieser Justizmord an ihrem noch so jungen, geliebten Freund weitaus schmerzlicher gewesen sein; habe ich doch eingewilligt, meine Frau gehen zu lassen. Denn ich habe akzeptiert, was sie in ihrer Patientenverfügung festgelegt hatte:
"Sollte ich eine Hirnverletzung oder eine Gehirnerkrankung haben, durch die meine normalen geistigen Funktionen schwerwiegend und vermutlich irreparabel geschädigt worden sind, so bitte ich um Einstellung der Therapie."
Uns beide Grabbesucher unterscheidet besonders dies: Seit elf Monaten gehe ich zum Grab meiner Frau, aber mir ist kein Gärtner begegnet, der sich als Auferstandener erwiesen hätte, keine Gärtnerin, in der ich meine Frau als Lebendige hätte wiedererkennen dürfen. Am Grab spreche ich oft zu ihr. Ich frage sie: Sag mir doch, wo bist du jetzt? Wie bist du jetzt? Hörst du mich? Hast du's gut? Bist du überhaupt noch - in irgendeiner Existenzform? Hat sich dein Wunsch erfüllt, in Abrahams Schoß zu landen? Keine Antwort. Kein Gärtner. Das Grab schweigt. Leben nach dem Tod, neue Existenz, aufgenommen in eine neue Welt - sind das alles vielleicht nur fromme Wunschvorstellungen, an den Himmel gemalt?
Und dann wieder erwische ich mich bei einem Abendgebet vorm Einschlafen, dass ich zu einem väterlichen Gott rede. Dem danke ich, dass er mein Gebet erhört und dem Leiden meiner Frau ein Ende gesetzt hat; und den bitte ich für mich um Stabilität für kommende Tage; denn die Uhren laufen jetzt anders. Der Puls auch. Eine Herz-Rhythmus-Störung hatte mich vorübergehend aus dem Takt gebracht. Erweise ich mich in solchem Beten nur als "Mensch in seinem Widerspruch"? Oder ist das ein Rückfall in frommes Bettgeflüster?
Aber geträumt habe ich von ihr, das ja. Im Traum war sie mir erschienen, zwei Mal kurz hintereinander fast der gleiche Traum: Sie konnte wieder sprechen. Und so, wie Jesus zur Maria sagt "Rühre mich nicht an", so hörte ich mich im Traum denken: 'Rühre sie nicht an durch Worte; berühr sie nicht mit deiner Freude, dass sie plötzlich wieder sprechen kann; die Gefahr ist groß, dass sie darüber sprachlos wird.' So dachte ich im Traum.
Wenn das Grab schweigt
Von Pfarrer i. R. Wolfgang Gerlach, Essen
"Wir beide sind Grabbesucher - Maria von Magdala aus der Bibel und ich", sagt Wolfgang Gerlach. Doch wir machen ganz unterschiedliche Erfahrungen am Grab: Ihr begegnet der soeben getötete geliebte Freund in Gestalt eines Gärtners; ich aber treffe niemanden an.
Der vermeintliche Gärtner nennt sie beim Namen. Das Grab meiner Frau schweigt." Hatte er als Pfarrer nicht unzählige Male an Gräbern von Auferstehung gesprochen? Welche biblischen Bilder und zeitgenössischen Texte haben die Kraft, Hoffnung anzusprechen wo Zweifel und Trauer verstummen lassen?
Spüren Sie's auch? Es ist immer noch früher als sonst, seit vor einer Woche die Uhren um eine Stunde vorgestellt sind. Mein Organismus hat sich noch nicht dran gewöhnt. Ich komm noch nicht mit.
Gestern haben die Christen in den Kirchen gesungen "Christ ist erstanden". Und heute werden sie's wieder singen. "Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen". Das ist österlicher Refrain, jedes Jahr. Im vorigen Jahr hab ich ihn auch noch mitgesungen - den Kanon "Der Herr ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden. Halleluja". Aber diesmal bleibt mir das Halleluja in der Kehle stecken. Die Stimmbänder geben's nicht frei. Der sprichwörtliche Kloß im Hals. Es ist, als ob die Uhren überhaupt gänzlich anders gingen, seit meine Frau vor elf Monaten gestorben ist. Ich komm noch nicht mit.
Maria Magdalena trauert auch um einen Menschen, den sie liebte. (Johannes 20) Wir sehen auch sie in der Früh. Da gab's noch kein Ostern. Durch das, was sie erlebte, sollte erst noch Ostern werden. Sie steht am Grab Jesu, vor Sonnenaufgang. Als Erste war sie gekommen, in der Dunkelheit. Sie wartet die Dämmerung ab. Sieht den Stein vom Grab gewälzt. Läuft verschreckt zur Jüngerschar, trifft Petrus und Johannes, erzählt erregt vom fortbewegten Stein, faselt verwirrt irgendwas davon, dass der Leichnam gestohlen sei. Die beiden Freunde laufen, wie um die Wette, mit ihr dorthin. Kommen an, sehen nur zusammengerollte Leinentücher. Der Evangelist Johannes, der diese Szene überliefert hat, schreibt hier nichts über die Gefühle der beiden.
Petrus wagt sich zuerst ins Grab. Von dem Jünger Johannes, in dem sich der Evangelist am liebsten selber sieht, heißt es:
"Da ging auch der andere Jünger hinein, der zuerst zum Grab gekommen war, und sah und glaubte. Denn sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder heim."
Maria Magdalena bleibt da. Auch sie - kommt noch nicht mit. Sie steht vorm Grab und weint. Es ist von zwei Engeln die Rede, die sie sieht. Oder sollte ich besser sprechen von Engeln, die sie schaut? Sie fühlt sich angesprochen auf ihre Trauer und Tränen. Sie sagt, sie sei auf der Suche ...
"Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben".
Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Weib, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hingelegt, so will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria!
Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch. Rabbuni! Das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater."
Maria Magdalena hat ihren Freund verloren und ich meine Frau. Wir beide sind Grabbesucher. Aber unsere Erfahrungen? Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Uns verbindet allein der Verlust eines geliebten Menschen. Aber sonst gibt es wenig Vergleichbares: Maria und Jesus jung, wir betagt; die Beiden kannten sich gut ein Jahr, wir beide waren 45 Jahre verheiratet; der Jude Jesus durch Heidenhand qualvoll hingerichtet, meine Frau nach Schlaganfall in tagelanger Atemnot qualvoll hingerafft. Ich weiß, solche
Vergleiche haben meistens wenig Sinn.
Aber für mich hat es dennoch Sinn; denn ich sehe und fühle:
Für Maria aus Magdala muss dieser Justizmord an ihrem noch so jungen, geliebten Freund weitaus schmerzlicher gewesen sein; habe ich doch eingewilligt, meine Frau gehen zu lassen. Denn ich habe akzeptiert, was sie in ihrer Patientenverfügung festgelegt hatte:
"Sollte ich eine Hirnverletzung oder eine Gehirnerkrankung haben, durch die meine normalen geistigen Funktionen schwerwiegend und vermutlich irreparabel geschädigt worden sind, so bitte ich um Einstellung der Therapie."
Uns beide Grabbesucher unterscheidet besonders dies: Seit elf Monaten gehe ich zum Grab meiner Frau, aber mir ist kein Gärtner begegnet, der sich als Auferstandener erwiesen hätte, keine Gärtnerin, in der ich meine Frau als Lebendige hätte wiedererkennen dürfen. Am Grab spreche ich oft zu ihr. Ich frage sie: Sag mir doch, wo bist du jetzt? Wie bist du jetzt? Hörst du mich? Hast du's gut? Bist du überhaupt noch - in irgendeiner Existenzform? Hat sich dein Wunsch erfüllt, in Abrahams Schoß zu landen? Keine Antwort. Kein Gärtner. Das Grab schweigt. Leben nach dem Tod, neue Existenz, aufgenommen in eine neue Welt - sind das alles vielleicht nur fromme Wunschvorstellungen, an den Himmel gemalt?
Und dann wieder erwische ich mich bei einem Abendgebet vorm Einschlafen, dass ich zu einem väterlichen Gott rede. Dem danke ich, dass er mein Gebet erhört und dem Leiden meiner Frau ein Ende gesetzt hat; und den bitte ich für mich um Stabilität für kommende Tage; denn die Uhren laufen jetzt anders. Der Puls auch. Eine Herz-Rhythmus-Störung hatte mich vorübergehend aus dem Takt gebracht. Erweise ich mich in solchem Beten nur als "Mensch in seinem Widerspruch"? Oder ist das ein Rückfall in frommes Bettgeflüster?
Aber geträumt habe ich von ihr, das ja. Im Traum war sie mir erschienen, zwei Mal kurz hintereinander fast der gleiche Traum: Sie konnte wieder sprechen. Und so, wie Jesus zur Maria sagt "Rühre mich nicht an", so hörte ich mich im Traum denken: 'Rühre sie nicht an durch Worte; berühr sie nicht mit deiner Freude, dass sie plötzlich wieder sprechen kann; die Gefahr ist groß, dass sie darüber sprachlos wird.' So dachte ich im Traum.